Abschied von der grossen Politlandschaft Merkel: Eine Ikone tritt ab von der politischen Weltbühne

Politik

Wenn ich an all den politischen Budenzauber denke, der sich insbesondere seit Beginn der Pandemie in der bundesdeutschen Hauptstadt und in den Landesparlamenten von Nord nach Süd und von West nach Ost immer noch abspielt, dann sträuben sich mir die noch wenigen auf meinem Kopf ausharrenden Haare.

Angela Merkel in Washington, Juli 2021.
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Angela Merkel in Washington, Juli 2021. Foto: Office of the President of the United States (PD)

19. November 2021
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Ein klares Konzept im verzweifelten Kampf gegen die Pandemie ist nicht erkennbar, der eine Experte erklärt die hochgefährlich Lage so, ein anderer behauptet das Gegenteil, der eine Politiker fordert in allabendlichen Talk-Shows die Massnahme A, der andere bekennt sich zur Massnahme B und schliesslich hängt jeder Politiker das gesamte Alphabet an die sich ständig verändernden ausgerufenen Massnahmen. Das Resultat dabei: Ein heilloses Durcheinander, ein verunsichertes Volk, steigende Zahlen in der Statistik der Infizierten, die Todesrate klettert ebenfalls nach oben, der RKI-Chef wird zum Buhmann der Nation und so weiter. Und die Infektionen steigen und steigen und die Unvernunft bei den Impfgegnern stirbt nicht aus.

Und was tut die Noch-Kanzlerin Angela Merkel?

Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage stellt sich seltsamerweise in diesen Tagen bei mir folgender bildhafter Gedanke ein: Wenn ein erfahrener und verdienstvoller Kapitän nach sechzehn Jahren, in denen er sein Schiff auf sämtlichen Weltmeeren stets heil und sicher durch alle Stürme und Gefahren geführt hat und sich dann eines Tages mit einem ihm anvertrauen Kreuzfahrtschiff auf seine allerletzte (Abschieds)-Reise begibt, um danach „in die Rente“ zu gehen, dann ist er bis zum letzten Augenblick dazu verpflichtet, sein Schiff und die sich darauf befindlichen Passagiere (die sich ihm anvertraut haben) zunächst wohlbehalten zum angesteuerten Ausflugsziel als auch wieder unversehrt zurück in den Heimathafen zu führen.

Das ist als Kapitän nicht nur seine Pflicht, nein, es ist die Einhaltung eines der ältesten „ungeschriebenen Gesetze“ in der dramatischen Geschichte der Seefahrt, das bis heute seine Gültigkeit nicht verloren hat und Zeugnis ablegt vom hohen Berufsethos aller Seefahrer einst vor langer Zeit.

Wenn ein Kapitän jedoch (aus welchen Gründen auch immer) sein Schiff früher als vereinbart verlässt, also noch bevor er sein Ziel erreicht hat oder in den Heimathafen zurück gekehrt und die Sicherheit der Passagiere nicht mehr gewährleistet ist, dann verstösst dieser Kapitän eindeutig gegen das soeben benannte Gesetz, das da heisst: Der Kapitän verlässt als Letzter das sinkende Schiff.

Auch wenn dieser Vergleich im Zusammenhang mit der aus dem Kanzleramt scheidenden und von der politischen Weltbühne abtretenden Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland auf den ersten Blick keinen rechten Sinn zu ergeben scheint, so trifft er vielleicht dennoch ein wenig ins Schwarze.

Wenn man die „Noch-Kanzlerin“ nämlich willkürlich, also rein hypothetisch als Kapitänin eines gigantischen Passagierschiffes namens Bundesrepublik sehen möchte und wenn sie dann genau das tut, was sie seit dem Empfang ihrer Entlassungsurkunde real getan, beziehungsweise nicht getan hat, dann gleicht sie sehr wohl jenem Kapitän, der sein Schiff (und damit alle Passagiere) in dem Augenblick verlässt, in dem es auf ein sehr gefährliches Riff zusteuert, an dem es möglicherweise zerschellen könnte.

Angela Merkel trat in diese von mir beim Frühstück ausgedachte (aber keineswegs unrealistische Rolle) zwar nicht mehr in ihrer Funktion als noch amtierende Regierungschefin, aber sie tat es als eine weltweit anerkannte Autorität, die es vorzog zu schweigen, anstatt ihre gewichtige Stimme laut und vernehmlich zu erheben in einem Augenblick, in dem nicht nur Deutschland, sondern auch die EU und die gesamte Welt vor gigantischen Herausforderungen stehen.

Und hier ist Eile geboten, denn unsere Gegenwart wird, neben einer Vielzahl von anderen tödlichen Wahrheiten (wie dem Klimawandel, das langsame Sterben einiger Demokratien, zunehmender Rechtsradikalismus, Völkermord, Antisemitismus, Verletzung aller Menschenrechte in diversen Diktaturen und dergleichen mehr) von zwei grausigen Wirklichkeiten geprägt, die rund um die Uhr die gesamte Menschheit und deren Leben bedrohen.

Die eine Wirklichkeit ist (was mittlerweile viele, doch bei weitem nicht alle Menschen in Deutschland erkannt haben) das Wüten eines tödlichen, sich täglich zum Negativen verändernde Virus mit dem schönen Namen „Corona“ (das hätte auch der Titel einer Oper von Mozart oder von Rossini sein können), aus dem zwei weitere „kleinere Wahrheiten“ hervor gegangen sind: Die Genialität mehrerer Wissenschaftler, die endlich das Serum gefunden haben, um dem Virus den Garaus zu machen. Das ist ein grosses Glück für Deutschland und für die gesamte Menschheit.

Was aber während dieser Pandemie-Zeit auch zum Vorschein kam, das ist weniger erfreulich, es ist die unglaubliche Dummheit von Millionen Menschen, die das Virus hartnäckig leugnen und sich noch immer dem Impfen verweigern, womit sie nicht nur sich selbst und ihre Umwelt auf verantwortungslose Weise gefährden, sondern auch noch die gesamte Wissenschaft verhöhnen und all jene bewundernswerten Männer und Frauen beleidigen, die sich in Krankenhäusern, in Arztpraxen, in den Altersheimen und in vielen anderen Einrichtungen rund um die Uhr bis zur totalen psychischen und physischen Erschöpfung darum bemühen, das Leben von Menschen zu retten, die von diesem tödlichen Virus befallen worden sind. Zur Zeit sind (welch bittere Ironie) fast alle Betten in den Intensivstationen von Impfgegnern belegt. Und noch immer leugnen sie weiter.

Mittlerweile muss es doch auch dem „Dümmsten“ klar geworden sein, dass dieses teuflische Virus und seine Folgen nicht mehr wie eine „normale Grippe“ zu bewerten sind (obwohl es auch da Todesfälle gibt), nein, diese Pandemie ist eine überraschend aufgetauchte Welt-Katastrophe, ist eine Epidemie, die alles übertrifft, was bisher durch tödliche Viren in den letzten Jahrzehnten weltweit ausgelöst worden ist.

Fest steht: Mit dem Auftauchen dieses tödlichen Virus, das nicht alleine kam, sondern im Verbund mit mehreren noch gefährlicheren Kumpanen (Mutanten) über die Menschheit herfiel, begann eine neue Zeitrechnung: Nichts mehr in der Welt von heute und von morgen wird so sein wie es bisher gewesen ist. Diese Pandemie ist eine Katastrophe biblischen Ausmasses und gleicht einem „Tanz auf dem Vulkan“, wobei die Frage offen bleibt, wer hier der Sieger sein wird: Ist es der Tänzer oder wird dieser vom Vulkan verschluckt? Das also ist die eine Wirklichkeit.

Und was ist die „zweite Wirklichkeit“ in der Welt von heute?

Es ist das, was sich zur Zeit an der polnisch-belarussischen Grenze abspielt und eine Schande ist für alle in der Europäischen Union vereinten Staaten, also besonders auch für Deutschland.

Wenn Menschen sich auf den mühseligen Weg nach Europa machen (oft geführt von kriminellen Schleusern), dann tun sie das, weil ihre Heimat durch Terror, durch Krieg oder durch Naturkatastrophen zerstört worden ist. Also fliehen die einen, weil die Lebensbedingungen in ihren Heimatländern sich so sehr verschlechtert haben, dass ein Verbleiben für sie dort nicht mehr möglich ist. Und die anderen fliehen, weil sie in ihren von Despoten regierten Ländern politisch verfolgt werden und um ihr Leben bangen müssen. Man denke hier nur an Belarus, an die Türkei, an China, an Russland und so weiter.

Was aber sind diese gewaltigen „Flüchtlingsströme“ überhaupt?

Die Antwort liegt auf der Hand: Es handelt sich hier eindeutig um die grösste Völkerwanderung der letzten zweihundert Jahre. Die Gründe dafür sind vielfältig und kompliziert. Das müssen die Politiker in aller Welt endlich begreifen und entsprechend auch handeln.

Fünfzehn Jahre lang war Angela Merkel ein Glücksfall für Deutschland (auch für Europa und die gesamte Welt) und nun, ausgerechnet im letzten, im sechzehnten Jahr ihrer klugen Regentschaft fängt sie plötzlich an zu schwächeln, sie, die starke und mächtigste Frau auf der politischen Weltbühne, die einst den Mut hatte zu sagen: „Wir schaffen das“, diese charismatische Frau und Kosmopolitin in ihrer kleinbürgerlichen Verkleidung, sie redete und lächelte in den letzten Tagen die für Deutschland und für die noch in den Windeln liegende Europäische Union die grossen Probleme unserer Zeit einfach weg, obwohl sie als „Noch-Kanzlerin“ sehr wohl die Macht, das Recht und auch die moralische Pflicht gehabt hätte, sich sowohl alle Ex-Regierungsmitglieder und die Ministerpräsidenten der Bundesländer (Gesetze, Parlament, Bundesrat, Beschränkung der Bürger-und Freiheitsrechte her oder hin) einmal ordentlich „zur Brust zu nehmen“, sie aufzufordern, endlich Vernunft (also den normalen Menschenverstand) walten zu lassen, sich auf ihre politischen Pflichten und auf ihre menschliche Verantwortung gegenüber eines jeden Bundesbürgers zu besinnen.

Es hätte ein patriotisches Donnerwetter, ein ernsthaftes Versprechen und Bekenntnis aller deutschen Politiker werden müssen, sich nun gemeinsam „an die Arbeit“ zu begeben, um mit einem klaren Konzept die Pandemie zu besiegen und dafür zu sorgen, dass die EU ohne Wenn und Aber die an der polnisch-belarussischen Grenze unter widrigsten Bedingungen hausenden Menschen sofort aufnimmt und in den einzelnen Mitgliedsländern verteilt. Europa ist gross und reich - die Not der frierenden und hungernden Frauen, Kinder und Männer an der polnischen Grenze aber ist riesengross.

Ja, ich wäre als Deutscher glücklich gewesen, wenn Angela Merkel den Mut aufgebracht hätte, sich während ihres Abschieds von der grossen Weltbühne mit einem flammenden Appell an die Regierungen aller Staaten zu wenden und von denen zu fordern, mit der Lösung der grossen Probleme in dieser Welt nicht erst morgen, sondern bereits heute zu beginnen. Ob sich dieser Traum von einer neuen und gerechteren Welt, befreit von Leid und Not, befreit von Lug und Trug, von Terror und Krieg und befreit von allen Despoten jemals erfüllen wird?

Axel Michael Sallowsky